Armenien/Aserbaidschan: Zwei neue Berichte über die besonderen Probleme älterer Menschen im Konflikt um Bergkarabach

Unterkunft für Binnenflüchtlinge in Aserbaidschan

In zwei am 17. Mai 2022 veröffentlichten Berichten zeigt Amnesty International, wie ältere Menschen seit Jahrzehnten unter dem Konflikt um Bergkarabach (armenisch Arzach) leiden. In dem bewaffneten Konflikt, der von 1988 bis 1994 andauerte und Ende 2020 erneut eskalierte, wurden ältere Menschen getötet, gefoltert und vertrieben.

 

Der Bericht “Last to Flee: Older People’s Experience of War Crimes and Displacement in the Nagorno-Karabakh Conflict“ (in englischer, russischer und armenischer Sprache) dokumentiert, dass ältere Menschen in dem Konflikt von September bis November 2020 in besonderem Maß Opfer von Gewalt wurden, darunter auch von Kriegsverbrechen wie außergerichtlichen Hinrichtungen, Folter und Misshandlung in aserbaidschanischer Haft.

Der andere Bericht “‘Life in a Box’: Older People’s Experiences of Displacement and Prospects for Return in Azerbaijan“  (Englisch, Russisch und Aserbaidschanisch) beschreibt die Leiden älterer Menschen, die in dem Konflikt 1988 bis 1994 aus Bergkarabach und den sieben angrenzenden Gebieten vertrieben wurden.

Der Konflikt in Bergkarabach verdeutlicht die besonderen Risiken, denen alte Menschen in bewaffneten Konflikten ausgesetzt sind. Oft sind sie die letzten, die fliehen können, und leiden jahrzehntelang unter den Auswirkungen. Sowohl in Armenien wie auch in Aserbaidschan fällt es alten Menschen besonders schwer, sich ein neues Leben nach der Vertreibung aufzubauen. Dass sie Unabhängigkeit und Würde verlieren, wird oft als unvermeidlich oder irrelevant angesehen.

Die Situation in Bergkarabach ist weiterhin angespannt, eine neue Eskalation möglich. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan sollten sich daher verbindlich verpflichten, dem Schutz älterer Menschen Priorität einzuräumen und den Schutz ihrer Menschenrechte, u.a. auf Wohnen und Gesundheit, zu garantieren.

Last to Flee

Als im September 2020 die Kämpfe in Bergkarabach erneut ausbrachen, waren es fast immer die älteren Menschen in den armenischen Ortschaften, die zuletzt flüchteten und deshalb überproportional von Gewalt betroffen waren.

Zu Beginn des Konflikts wurden Männer zwischen 18 und 55 Jahren meist mobilisiert oder meldeten sich freiwillig. Wenn die aserbaidschanischen Streitkräfte in armenische Dörfer und Städte vordrangen, waren oft nur noch ältere Menschen dort, insbesondere ältere Männer. In manchen Fällen wurde die Flucht durch Behinderungen und gesundheitliche Probleme erschwert, in anderen führten psychosoziale Probleme und Demenz dazu, dass sie nicht begriffen, wie dringlich die Flucht war. Wieder andere hingen an ihrem Zuhause oder wollten ihr Land und ihre Tiere nicht im Stich lassen. Diejenigen, denen die Flucht gelang, berichten über unzureichende Wohnbedingungen und den Verlust ihrer Einkommensquellen, was zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und Isolation führte. Zudem leiden sie an einem Mangel an Diensten zur psychosozialen und psychologischen Unterstützung.

Mehr als die Hälfte der armenischen Zivilistinnen und Zivilisten, die infolge des Konflikts starben, waren ältere Menschen. Viele der Interviewten berichteten Amnesty International von außergerichtlichen Hinrichtungen durch aserbaidschanische Militärangehörige. Nach ihrer Aussage wurden die Opfer zum Teil enthauptet oder aus unmittelbarer Nähe erschossen. Dies sind Kriegsverbrechen und vorsätzliche Tötungen. In manchen Fällen scheinen Opfer vor ihrem Tod gefoltert worden zu sein, in anderen wurden die Leichname verstümmelt. Ältere Männer wurden anscheinend auch deshalb misshandelt, weil die aserbaidschanischen Soldaten dachten, sie hätten in den 1990-er Jahren auf armenischer Seite gekämpft.

Amnesty International konnte viele dieser Fälle durch Aussagen von Zeugen und Verwandten und durch die Überprüfung von Sterbeurkunden, amtliche forensische Untersuchungen durch die armenischen Behörden und Videos in den sozialen Medien verifizieren.

Amnesty International fordert von der aserbaidschanischen Regierung, dass alle Angehörigen der Streitkräfte, die für Kriegsverbrechen wie willkürliche Tötungen, Folter unmenschliche Behandlung oder Verschwindenlassen verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden.

Vertreibung hat für alle Menschen verheerende Folgen, aber alte Menschen stellt sie vor besondere Probleme. Die armenischen Behörden und die de facto-Behörden in Bergkarabach müssen mehr tun, um sicherzustellen, dass alte Menschen ebenso wie andere ihr Leben neu aufbauen können. Sie müssen ihren Ansatz humanitärer Hilfe ändern und sicherstellen, dass ältere Menschen die Unterstützung erhalten, die sie brauchen.

‘Life in a Box’

Während des Konflikts in den Jahren 1988 bis 1994 wurden mehr als eine halbe Million ethnischer Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner aus der Region und den sieben angrenzenden Bezirken vertrieben. Viele Zivilistinnen und Zivilisten wurden getötet oder waren Gewalt ausgesetzt. Die Vertriebenen leben seitdem in anderen Teilen Aserbaidschans. Jahrzehntelang lebten sie in überfüllten Zeltlagern, Wohnheimen und Schulen oder in ausrangierten Eisenbahnwaggons, Schuppen und anderen Gebäuden. Sie teilten sich Toiletten und Duschen mit Dutzenden anderen Menschen und lebten manchmal ohne Strom, Heizung oder fließendes Wasser. Es fiel ihnen schwer, ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, Essen und Medikamente zu kaufen.

2020 eroberte Aserbaidschan einen großen Teil des vorher verlorenen Gebiets zurück, und es gibt Pläne, Hunderttausende von Vertriebenen wieder dort anzusiedeln. Dies trifft jedoch auf Hindernisse: Das armenische Militär hat Millionen von Tretminen verlegt und die Zerstörung und Beschlagnahmung Eigentum im großen Umfang durchgeführt und zugelassen. Viele ältere Menschen haben Vorbehalte gegen eine dauerhafte Rückkehr in ihre Heimatregionen.

Obwohl es in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gegeben hat, leben immer noch 100.000 Binnenflüchtlinge unter schwierigen Bedingungen in informellen Unterkünften in Aserbaidschan. Sie sind überfüllt und oft schwer zugänglich, so dass ältere Menschen auf die Hilfe von Verwandten oder anderen Menschen angewiesen sind, wenn sie ihre Unterkunft verlassen wollen.

Amnesty International ruft die aserbaidschanische Regierung dazu auf, dass bei jedem Rücksiedlungsprozess die Rechte und Bedürfnisse verschiedener Gruppen alter Menschen, darunter alter Frauen und alter Menschen mit Behinderungen, respektiert und alle älteren Menschen sinnvoll in Entscheidungen darüber einbezogen werden und transparente, gut zugängliche Informationen erhalten, damit sie eine informierte, freiwillige Entscheidung treffen können.

Alle Vertriebenen haben ein Recht darauf, in Sicherheit und Würde in ihre ursprünglichen Häuser zurückzukehren, und die besonderen Risiken für ältere Menschen müssen berücksichtigt werden. Die aserbaidschanischen Behörden müssen sicherstellen, dass sie Zugang zu angemessenem Wohnraum haben und gleichberechtigt mit anderen ihren Lebensunterhalt verdienen können.

Die Zerstörung ziviler Objekte und die Beschlagnahmung zivilen Eigentums durch die armenischen Streitkräfte ebenso wie der verbreitete Einsatz von Tretminen verletzen humanitäres Völkerrecht. Sie beeinträchtigen nicht nur das Recht der Binnenflüchtlinge auf Rückkehr, sondern stellen auch ein ernsthaftes Hindernis für die Bemühungen Aserbaidschans um Rücksiedlung der Vertriebenen in den Konfliktregionen dar.