Georgien/Russland: Gemeinden getrennt, Tausende von Menschen im Abseits – neuer Bericht über die Situation an den Grenzen Abchasiens und Südossetiens

Die Versuche Russlands und der de facto-Regierungen Abchasiens und Südossetiens, die Grenze der beiden abtrünnigen Gebiete zum übrigen Georgien auch physisch zu markieren, haben starke Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und andere Menschenrechtsverletzungen zur Folge. Familien werden durch Stacheldraht getrennt und von ihrer Lebensgrundlage abgeschnitten. Wenn sie versuchen, die Grenze zu überqueren, riskieren sie willkürliche Festnahmen zu werden. Dies ist Thema eines neuen Berichts von Amnesty International.

Behind barbed wire: Human rights toll of “borderization” in Georgia (Hinter Stacheldraht – Menschenrechtszoll der Grenzbefestigug) zeigt die verheerenden Auswirkungen der Bemühungen russischer Kräfte und der de facto-Regierungen, durch Stacheldraht, Zäune, Gräben u.ä. eine “internationale Grenze” zu errichten. Diese teilt Dorfgemeinschaften und schneidet Bauern von ihrem Land, Wasser, Andachtsstätten und sogar Familiengräbern ab.

“Diese willkürlichen Maßnahmen schnüren den Menschen die Luft ab. Hunderte von Menschen werden jedes Jahr festgenommen, wenn sie versuchen, die Grenze zu überqueren, nur um Verwandte zu treffen, sich um ihre Felder zu kümmern oder zum Arzt zu gehen. Ganze Gemeinschaften werden von ihren Einkommensquellen und anderen wichtigen Aspekten ihres Lebens abgeschnitten – sie werden bestraft, nur weil sie zufällig da leben, wo sie leben”, sagte Marie Struthers, Leiterin der Abteilung für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.

“Faktisch übt Russland die Kontrolle über Abchasien und Südossetien/Tskhinvali aus und muss deshalb seine Verpflichtungen nach humanitärem Völkerrecht einhalten und die Menschenrechte in diesen Gebieten wahren.”

Trennung von Gemeinden, Zerstörung von Lebensgrundlagen

Russische Streitkräfte sind seit August 2008 sowohl in Abchasien als auch in Südossetien ohne die Zustimmung Georgiens stationiert.

2011 begannen die russischen Kräfte mit dem Ausbau der Grenze (borderization), um die administrative Grenze – früher oft nur eine gepunktete Linie auf der Landkarte – zu einer befestigten Grenze zwischen Abchasien und Südossetien einerseits und dem unter der Kontrolle der georgischen Regierung stehenden Gebiet andererseits zu machen.

Davit Vanishvili, ein 85-jähriger Mann aus dem Dorf Kkhurvaleti, das dadurch geteilt wurde, berichtete Amnesty International, wie Angehörige der russischen Streitkräfte ihn 2013 vor eine harte Wahl stellten – entweder in seinem Haus auf der südossetischen Seite der Grenzlinie zu bleiben oder den Rest seines Lebens als Binnenvertriebener auf dem von Tbilisi kontrollierten Gebiet zu leben.

Er wählte die erste Alternative, ist aber nun von seiner Familie und seinen Freunden getrennt. Er und seine Angehörigen gehen jedes Mal, wenn sie im Schutz der Dunkelheit den Zaun zu überwinden versuchen, um in Georgien seine Rente, Medikamente und andere Güter zu erhalten, das Risiko einer Festnahme ein.

“Russische Militärangehörige kamen zu meinem Haus und sagten, das sei nicht mehr Georgien. Noch am selben Tag begannen sie, Zäune um meinen Hof zu errichten. Ich kann nicht mehr in das Dorf oder das übrige Land”, sagte er Amnesty International. Die “Borderization” der administrativen Grenze wirkt sich auf Gemeinden auf beiden Seiten der Grenze und aller ethnischen Gruppen aus.

Nach Angaben der georgischen Behörden waren Ende 2018 mindestens 34 Dörfer durch vom russischen Militär errichtete Zäune getrennt. Schätzungsweise 800 bis 1.000 Familien haben keinen Zugang mehr zu ihrem landwirtschaftlich genutzten Grund und Boden.

Amiran Gugutishvili, ein 71-jähriger Bauer in dem Dorf Gugutiankari in der Nähe der administrativen Grenze zu Südossetien, ist seit 2017 von Sozialleistungen abhängig, da er keinen Zutritt mehr zu seinem Apfelgarten hat.

“Jedes Jahr erntete ich mehr als hundert Kisten Äpfel und verkaufte sie. Der Gewinn reichte aus, um das Überleben meiner Familie zu sichern. Seit 2017 komme ich nicht mehr in meinen Garten. Russische Soldaten haben ein Schild aufgestellt, dass hier eine Staatsgrenze ist. Manchmal gehe ich dort noch vorbei, um durch den Zaun einen Blick auf meine Apfelbäume zu werfen”, sagte er Amnesty International.

Die Schließung von Grenzübergängen untergr Handel

Die “Borderization” beinhaltet auch die Schließung mehrerer offizieller Grenzübergänge zwischen Südossetien bzw. Abchasien und dem übrigen Georgien. Dies hatte negative Auswirkungen auf den früher regen Handel zwischen den Gebieten. Die soziale und wirtschaftliche Situation in Gemeinden zu beiden Seiten der Grenze verschlechterte sich massiv, weil lokale Produzenten den Zugang zu den nächstgelegenen Märkten verloren haben.

Das Dorf Khurcha auf der abchasischen Seite des Flusses Enguri, der Abchasien vom übrigen Georgien trennt,war dank seinem Grenzübergang früher ein lokales Handelszentrum. Aber der Übergang wurde im März 2017 geschlossen, worauf ein Teil der EinwohnerInnen in die von Tbilisi kontrollierten Gebiete zogen. “Unser Dorf ist in einer Sackgasse – wie unser Leben”, sagte ein 85-jähriger Einwohner von Khurcha. Das Überqueren der Grenze an Stellen, die nicht dafür vorgesehen sind, oder ohne die vorgeschriebenen Dokumente, die oft schwer zu bekommen sind, wird von den russischen und abchasischen bzw. südossetischen Behörden als illegal angesehen. Dies führt dazu, dass jedes Jahr Hunderte von Menschen willkürlich festgenommen werden. Einige von ihnen sollen in der Haft geschlagen und und misshandelt worden sein.

Amnesty International fordert, dass die de facto-Behörden der abtrünnigen Gebiete die früheren Übergangspunkte wieder öffnen und die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit der in unmittelbarer Nähe zur Grenze lebenden Bevölkerung aufhebt. Eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit soll nur dann möglich sein, wenn sie aus tatsächlichen Sicherheitsgründen und militärischen Erwägungen notwendig ist, und sie soll verhältnismäßig sein.

Außerdem fordert Amnesty International Georgien auf, den Familien, deren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte durch die “Borderization” beeinträchtigt werden, etwa durch den fehlenden Zugang zu ihrer Lebensgrundlage, angemessen zu unterstützen.

Hintergrund

Die politischen Konflikte, die den Feindseligkeiten zwischen Georgien, Russland und den beiden abtrünnigen Regionen zugrunde liegen, dauern bis heute an. Sie sind aber nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Diese basiert auf etwa 150 Zeugenaussagen, die bei Reisen nach Georgien im März und Juli 2018 sowie im Juni 2019 gesammelt wurden. Amnesty International hat an die russische Regierung und die de facto-Behörden Abchasiens und Südossetiens sowie an die georgische Regierung geschrieben und eine Zusammenfassung unserer Ergebnisse und Anliegen beigefügt, damit sie erwidern und ihre Position in dem Bericht widergespiegelt sehen konnten. Eine Antwort kam nur von der georgischen Regierung.

Der vollständige Bericht ist in englischer, georgischer und russischer Sprache erschienen.

3. Oktober 2020